Als „Inkunabeln der Künstlergemeinschaft Brücke“ und das „Beste des ‚Deutschen Expressionismus“ stuft der Experte Dr. Mario von Lüttichau das ein, was am 9. und 10. Dezember unter dem Titel ‚Die Maler der Brücke – Sammlung Hermann Gerlinger (SHG)‘ beim Auktionshaus Ketterer Kunst in München zum Aufruf kommt. Nach einem erfolgreichen Auftakt im Juni (alle Werke wurde verkauft) will das Unternehmen in der zweiten Tranche der Sammlung (mehr als 90 Arbeiten) mit Highlights und einem breitem Spektrum locken: mehr als die Hälfte der Offerte stellen Gemälde, Aquarelle, künstlerisch gestaltete Postkarten und Skulpturen dar. Manches davon kommt aus zum Teil noch laufenden Museumsausstellungen. Hermann Gerlinger sammelte von Beginn mit einer anspruchsvollen wissenschaftlichen Systematik, er publizierte und verlieh seiner Kollektion einen musealen Charakter. Mit seinen Werken komme, so Dr. Mario von Lüttichau, eine veritable Museumssammlung auf den Markt. „Und dies hat natürlich Einfluss auf die Preisentwicklung“. Der ehemalige Kustos am Museum Folkwang in Essen und nun wissenschaftliche Berater bei Ketterer Kunst im Gespräch mit Agnes Schofield.
ARTCOLLECTOR: Herr von Lüttichau, das Auktionshaus Ketterer, das Sie neuerdings mit Ihrer Expertise unterstützen, konstatierte mir gegenüber, dass Sie bei der Aufbereitung der Werke aus der Sammlung Hermann Gerlingers und im Angebot der Kunst nach 1945/Contemporary Art „zahlreiche frappierende Aspekte herausgearbeitet hätten”. Können Sie ein, zwei Beispiele dazu angeben? Was zeichnet Ihr Auge und Ihre Expertise aus?
Dr. Mario von Lüttichau: Ich blicke auf rund 40 Jahre Erfahrung mit Sammlungen in Museen zurück, davon zuletzt 26 Jahre als Sammlungsleiter im Museum Folkwang. Aspekte hierzu habe ich publiziert oder in Form von Ausstellungen untersucht und veröffentlicht. Kern meiner Expertise ist das ausgehende 19. Jahrhundert und die Klassische Moderne, ich fühle mich aber auch in der Kunst nach 1945 und der zeitgenössischen Kunst zu Hause. Entscheidend war und ist für mich, viel zu sehen, historische Zusammenhänge aufzuspüren und irgendwie in meinem Zettelkasten im Kopf abzuspeichern. Dies kommt meiner Tätigkeit bei Ketterer Kunst sehr zupass. Auch kann ich dort mit einem jungen, umfassend gebildetem und sehr engagiertem Team Ideen und Wege der Forschung durchaus kontrovers diskutieren. Dies ist die Basis für Aufbereitung, Katalogisierung der Werke, die Sammlerinnen und Sammler uns anvertrauen. Dies gilt gleichermaßen für das Konvolut Sammlung Hermann Gerlinger, wie auch für Einlieferungen, die anonym bleiben.
… und die frappierenden Aspekte?
Ein besonders spannender Aspekt hat sich bei der Aufbereitung der aktuellen Auktion gezeigt, denn viele der Brücke-Arbeiten lassen sich eindrucksvoll mit der zeitgenössischen Offerte kombinieren. Ein wunderbares Nebeneinander aus diesen an sich so unterschiedlichen Zeiten, Jahrgängen und Stilepochen entsteht. Fast täglich konnten wir hier neue Entdeckungen machen und Parallelen ziehen. So kann ich beispielsweise nicht umhin, die beiden einst heiß glühenden und nun filigran ausbalancierten monumentalen Stahlplatten von Richard Serras „Corner Prop No.6 (Leena and Tuula)“ aus dem Jahr 1983 mit Karl Schmidt-Rottluffs 1913 entstandenem Meisterwerk „Rote Düne“ zu assoziieren oder auch Georg Baselitz’ „Hofteich“ von 1975 mit Ernst Ludwig Kirchners schon 60 Jahre zuvor entstandenem „Im Wald“ in Verbindung zu bringen. Natürlich sind Werke des Expressionismus und der Klassische Moderne auch heute noch Inspirationsquellen für die nachfolgenden Künstlergenerationen. Tatsächlich entdeckten wir mehrere Parallelen zwischen den Generationen: Es ist ihre malerische Sprache, die etwas ‚Wildes‘, Ungestümes zum Ausdruck bringt und bei aller Gegenständlichkeit nach einer Abstraktion des Gesehenen sucht; ebenso wie die Leidenschaft und Ekstase, die die Künstlergenerationen verbindet. So wie der Expressionismus immer wieder neu und provokativ erscheint, so zeitlos und modern ist die „Brücke“-Kunst an sich. Wir erkennen bei vielen Gegenüberstellungen die Neigung zu Flächenhaftigkeit in der Darstellung: die Tendenz, das Räumliche aus der Farbe heraus zu erschaffen und durch Konturen die Farbkontraste in ihrer rhythmisierten Abtrennung zu potenzieren. Der Drang zu spontanen Niederschriften des Erlebten, die eigenwillige Pinselführung, die sinnlichen, leuchtenden Farben und den temperamentvollen Rhythmus bestimmen in beiden Welten die Malerei. Das Verwandte zeigt sich hier auch in dem teilweise deformierten, mittels äußerster Leuchtkraft der Farbe erreichten Ausdruck. Starre Konturen und dicke Striche dominieren nicht über das Anliegen der Künstler: den Kern der emotionalen Aussage offen zu legen.
Schon im Juni kamen bei Ketterer Kunst aus der Sammlung Hermann Gerlinger die ersten Werke zum Aufruf, etwa von Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Ernst Ludwig Kirchner, Otto Mueller, Fritz Bleyl und Hermann Max Pechstein. Im Sommer waren Papierarbeiten stark vertreten, die in der Frühzeit der Brücke-Bewegung eine wichtige Rolle spielten – schlichtweg da sich die Maler keine teuren Leinwände leisten konnten. Diese sind inzwischen ein Markenzeichen der Brücke-Kunst, denn symbolisieren sie die stilprägende Spontaneität und Direktheit…
In der ersten Auktion mit Werken der „Maler der Brücke“ haben wir einen Querschnitt der Sammlung Hermann Gerlinger vorgestellt und dabei darauf geachtet, dass von jedem Künstler ein möglichst breites Spektrum zum Aufruf kam. Auch spiegelt diese Sammlung die Kunst der Brücke in drei wichtigen Zeitachsen wider: vor dem Zusammenschluss, also Erstlingsarbeiten der schaffenden Mitglieder, dann die Zeit von 1905 bis 1913 und schließlich die Zeit nach der Trennung bis zum Tod der jeweiligen Künstler. Spontanität und Direktheit sind in der Tat die Charakteristika der Brücke-Künstler, die sie schon mit dem Viertelstundenakt-Zeichnen propagieren und die sie in den zahlreichen Zeichnungen und Aquarellen fortsetzen. Das hat nur bedingt mit Mangel an teureren Leinwänden zu tun, als vielmehr mit Emotionen und damit, Gesehenes schnellstmöglich – im wahrsten Sinn – zu Papier zu bringen. Hinzu kommt die Beschäftigung mit den druckgrafischen Techniken, die die Künstler einsetzen, um Marketing-Ideen zu vervielfältigen: um etwa das Interesse und die Neugierde der passiven Mitglieder mit Jahresberichten und Jahres-Mappen zu befriedigen. Wobei hier der Holzschnitt eine hervorragende Rolle, ja geradezu eine Renaissance erfährt und zu dem großartigen Ausdrucksmittel der Brücke avanciert, besonders bei Heckel, Kirchner und Schmidt-Rottluff.
Spontanität und Direktheit sind in der Tat die Charakteristika der Brücke-Künstler, die sie schon mit dem Viertelstundenakt-Zeichnen propagieren und die sie in den zahlreichen Zeichnungen und Aquarellen fortsetzen. Das hat nur bedingt mit Mangel an teureren Leinwänden zu tun, als vielmehr mit Emotionen und damit, Gesehenes schnellstmöglich – im wahrsten Sinn – zu Papier zu bringen.
Wie erkennt man gute, nennen wir sie auch emotionale Zeichnungen und Holzschnitte? Was sind hier die ästhetischen Kriterien? Oder sollte man stets vergleichen, wie der Markt bisher monetär diese oder ähnliche Exemplare validierte – um so der Qualität auf die Schliche zu kommen?
Über Qualität lässt sich bekanntlich trefflich streiten. Nicht jedes Werk ist sogleich ein Meisterwerk, und so rate ich beginnenden, jungen Sammlerinnen und Sammlern dazu, sich heranzutasten: sich erstmal mit dem zu beschäftigen, das spontan ins Auge fällt. Ausgedehnte Museumsbesuche sind hier wichtig und ganz viel Schauen und Vergleichen. Automatisch entstehen dann auch Fragen ein, zu deren Beantwortung wir gerne beitragen. Übrigens hat auch Hermann Gerlinger so begonnen: Ein Holzschnitt von Karl Schmidt-Rottluff hat den damaligen Studenten in München begeistert und in Bann gezogen.
Gibt es Techniken innerhalb der Werke seiner Sammlung, die besonders empfehlenswert sind, vielleicht auf den zweiten Blick für große Kunst stehen? Nehmen wir z. B. die Handzeichnungen, Aquarelle, Holzschnitten, Radierungen, Lithografien…
Auch hier spielen die eigenen Vorlieben und natürlich das Budget eine Rolle. Und die Frage: Ist der Interessent ein Neuling oder ein Fortgeschrittener mit bereits geschulten Augen? Sammeln hängt von vielen Faktoren ab, die zu berücksichtigen ist ein kaum zu leistendes Unterfangen. Wir von Ketterer Kunst können anbieten, bei der Einordnung – etwa eines Aquarells oder eines Holzschnitts – im Kontext des jeweiligen Künstler-Oeuvres zu helfen. Bei Vorbesichtigungen vor den Auktionen ist dies eine unserer schönsten Aufgaben.
Sprechen wir über die Filetstücke, also die Gemälde: In den Herbstauktionen soll ein Teil der Gemälde angeboten werden, der kürzlich noch in Ausstellungen zu sehen war und somit auf schier direktem Wege aus dem Museum im Auktionshaus landen wird. Welche Ausstellungen sind hier gemeint und was bedeutet das für die Preisentwicklung? Werden diese Institutionen wie Durchlauferhitzern auf den Wert der Gemälde wirken? Und wenn ja, kann man von nachhaltiger Wertsteigerung oder doch nur von kurzweiligem Marketing-Effekt sprechen?
Tatsächlich hat Professor Hermann Gerlinger zunächst ein Museum als Heimat für seine fantastische Sammlung gesucht und die Werke seit mehr als 30 Jahren immer wieder einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht, u.a. in Schleswig im Schloß Gottorf, in der Moritzburg in Halle an der Saale und schließlich im Buchheim Museum in Bernried am Starnberger See. Erst Ende letzten Jahres ist bei Hermann Gerlinger der Gedanke gereift, sein Lebenswerk zu veräußern und dafür neue Kunstliebhaber zu interessieren wie auch Museen zu begeistern, deren Sammlungsschwerpunkt sich um „Die Brücke“ und den Expressionismus ergänzen und erweitern ließe. Gerlinger hat von Beginn mit einer höchst anspruchsvollen wissenschaftlichen Systematik gesammelt, darüber publiziert und somit seiner Kollektion museale Qualität und musealen Charakter verliehen. Mit seiner Kollektion kommt eine veritable Museumssammlung auf den Markt, die ihres Gleichen sucht, und dies hat natürlich Einfluss auf die Preisentwicklung.
Gerlinger hat von Beginn mit einer höchst anspruchsvollen wissenschaftlichen Systematik gesammelt, darüber publiziert und somit seiner Kollektion museale Qualität und musealen Charakter verliehen. Mit seiner Kollektion kommt eine veritable Museumssammlung auf den Markt, die ihres Gleichen sucht, und dies hat natürlich Einfluss auf die Preisentwicklung.
Die Sammlung Gerlinger soll bei Ketterer Kunst, auf mehrere Auktionen verteilt, bis Sommer 2024 angeboten werden. Auch geplant sind Versteigerungen historischer Dokumente rund um die Brücke-Mitglieder. Um was genau handelt es sich hier und warum könnte diese Offerte für Kunstsammlerinnen und -sammler von Interesse sein? Sind darunter unterschätzte Objekte zu finden, die dem gewöhnlichen Sammler von Kunst nicht sofort ins Auge stechen? Können Sie Beispiele dazu oder Ihre persönliche Favoriten nennen?
Die Sammlung ‚Maler der Brücke‘ von Hermann Gerlinger zeichnet sich in ihrem umfassenden Querschnitt aus. Es gibt keine ‚Hinterlassenschaft‘ der Künstler, die Gerlinger nicht versucht hat, seiner Idee von Sammlung einzuverleiben. Dazu gehören auch Dokumente ihres Tuns: etwa Signets, Programme, Mitgliedsausweise, Jahresberichte, Jahres-Mappen, Einladungskarten, Plakate und Ausstellungs-Kataloge, welche die Künstler selbst gestaltet haben. So etwa 1910 für die Galerie Arnold in Dresden oder 1912 für die Galerie Gurlitt in Berlin. Neben dem gemeinsamen Arbeiten in den Ateliers draußen an den Moritzburger Teichen sind diese ‚Archivalien‘ das entscheidende Ausschließlichkeitsmerkmal der Brücke. Diesem besonderen Aspekt der Sammlung haben wir deshalb einen eigenen Katalog mit dem Titel „Es begann mit einer Idee – Die Brücke“ gewidmet. Die Arbeiten werden mit dem Day Sale am Samstag, dem 10. Dezember, zum Aufruf kommen. Mit dem Evening Sale am 9. Dezember stellen wir einen weiteren Querschnitt der Sammlung vor, der sich auf die Kernzeit der Brücke, also von 1905 bis 1913 bezieht. Hier kommen – ebenfalls vorgestellt in einem eigenen Katalog mit dem Titel „Die Brücke – Expressiv“ – veritable Inkunabeln des Expressionismus zum Aufruf, wie „Das Blaue Mädchen in der Sonne“ von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Jahr 1910, „Figuren am Strand“ von Erich Heckel aus dem Jahr 1912, oder Karl Schmidt-Rottluffs „Lesende (Else Lasker-Schüler)“, ebenfalls 1912 gemalt. Auch zwei Skulpturen von Heckel und Kirchner, einfach großartig! Sie zählen alle zu meinen Favoriten. Für diejenigen, die über die Auktionskataloge hinaus mehr zu Professor Hermann Gerlinger und zur Einordnung seiner Sammlung durch externe Experten erfahren möchten, haben wir erstmals einen Ketterer-Kunst-Podcast produziert und ein Gespräch von Günther Jauch mit dem Sammler in Bild und Ton festgehalten. Beides ist ab sofort unter www.kettererkunst.de und auf dem Ketterer Kunst-YouTube-Kanal zu finden.
AUKTIONEN 9./10. DEZEMBER 2022
19. JAHRHUNDERT | KLASSISCHE MODERNE | CONTEMPORARY ART
Joseph-Wild-Straße 18 · 81829 München www.kettererkunst.de
VORBESICHTIGUNG in München
Samstag, 3. Dezember 2022, 15 – 19 Uhr Empfang 16 – 18 Uhr
Sonntag, 4. Dezember 2022, 11 – 17 Uhr
Montag, 5. Dezember 2022, 10 – 18 Uhr Dienstag
6. Dezember 2022, 10 – 18 Uhr Mittwoch
7. Dezember 2022, 10 – 18 Uhr Donnerstag
8. Dezember 2022, 10 – 17 Uhr Freitag
9. Dezember 2022, 10 – 17 Uhr