NFTs generierten im ersten Halbjahr 2021 insgesamt 2,5 Milliarden Dollar Umsatz am Kunstmarkt, im Vorjahreszeitraum waren es noch 13,7 Millionen Dollar. Auch wenn Skeptiker von einem flüchtigen Trend sprechen – mit den Daten-Skulpturen von Anadol Refik zumindest steht uns eine neue Dimension von Kunst und Kunstbetrachtung ins Haus.
Spätestens seitdem eine virtuelle Collage des Künstlers Beeple (Mike Winkelmann) in einer Auktion fast 70 Millionen US-Dollar einspielte, ist Kryptokunst keine Nischen-Erscheinung mehr und NFTs nicht nur etwas für Nerds. Sicher, viele der Videos, die viral gehen, sind banal: Katzen kommen darin vor und oft erinnert die Ästhetik an billig animierte Zeichentricks oder Bildschirmschoner aus den Neunzigern. Doch es gibt auch wahre Staunkunst! Die Datenskulpturen von Refik Anadol betören Menschenmassen egal welchen Alters und Bildungsniveaus. Refiks Raffinesse im Konstruieren von wellenartig sich bewegenden Welten, die sich scheinbar aus der Wand heraus winden, gleicht einem Schallmauerdurchbruch in der Herstellung von Bildern. Mit seinen Werken scheint eine völlig neue Dimension von Ästhetik aus der Ferne zu uns zu winken.
Die Verschlüsselung der Dateien als NFT wirkt bei diesem Trend wie ein Katalysator. Andernfalls blieben viele Kryptokunstwerke Spielereien. Erst wenn etwas rar ist, wird es wertvoll – und bekommt Beachtung. Während digitale Kunst bisher in beliebiger Menge kopiert werden konnte, macht die neue Technologie aus virtuellen Gütern nicht austauschbare digitale Vermögenswerte (NFTs). Mittels einer Besitzurkunde auf der Blockchain einer Datei gibt diese auf unzähligen, weltweit verteilten Rechnern ihre Zugehörigkeit zu einem Besitzer kund. Es ist wie ein Eintrag in ihre DNA. In die Blockchain-Technologie lassen sich außerdem Provenienz und Zustand der Datei speichern und mittels Sensoren per Smart Contract sogar der aktuelle Aufenthaltsort eines NFTs melden. Die führende Technologie für NFTs heißt Ethereum, die führende Kryptowährung Ether (ETH). Um NFTs zu erwerben, benötigt man eine digitale Geldbörse (Krypto-Wallet, auch als App) zur Aufbewahrung seiner Krypto-Coins (etwa Coinbase, eToro, Biance). Und schon kann es losgehen. Ein vertraulicher Anbieter ist Metamask.
Verglichen mit den Gepflogenheiten am Kunstmarkt, ist dieser auf nur einigen Klicks basierte Erwerb von Kunst ein Klacks. Käufer von NFTs müssen auch kein großes Haus besitzen oder Lager mieten – und nicht mal von Kunstmesse zu Kunstmesse hoppen. Man kann NFTs als „schnellere Form der Monetarisierung von Kunst“ verschreien, wie es Journalist und Kurator Kolja Reichert in vielen Artikeln und seinem neuesten Buch zur Kryptokunst tut – und süffisant pointiert: „Wer den Kunstmarkt nur zum Geldmachen und -vermehren betrat, sollte tatsächlich auf NFTs umswitchen. Aber er wird sich auch von materialisierter, poetischer Kunst lossagen müssen.“ Ein scharfes Schwert, das Reichert hier gegen die neue Technologie zückt.
Kryptokunst derart zu schmähen bedeutet allerdings nicht nur, jegliche Beispiele daraus zu kennen und zu stigmatisieren, sondern ihr jedwede Entwicklung abzusprechen. Dieser Pessimismus gegenüber Neuem ist nicht nur typisch hierzulande. Er wirft uns anderen Nationen gegenüber zurück, bremst die natürliche Neugierde aus und ist pure Verblendung. Vielleicht stehen wir am Anfang einer neuen Dimension in der Herstellung und Wahrnehmung von Kunst. Warum sich dagegen wehren? Seit über einem halben Jahrhundert tritt die Kunst – gemäß der Stilkunde – auf der Stelle. Hier und heute besitzen wir neue Tools gepaart mit einer neuen Technologie (Blockchain), um große Schritte zu gehen. Vielfach beachtete Künstler (etwa das Kollektiv AES+F) rüsten sich mit den Skills. Die Blockchain-Technologie schenkt freilich keine Inspiration frei Haus, aber sie bringt den letzten Ruck, der eine Bewegung entfachen könnte. Auch die impressionistische Malerei trat dank der Erfindung der Tubenfarben auf den Plan, beziehungsweise die Leinwände. Die Maler konnten praktisch ausgerüstet ins Freie ziehen und beim Betrachten der sich im Tageslicht verändernden Welt ihre Impressionen schnell auf die Leinwand werfen – ohne vorher die Farben mühsam anmischen zu müssen.
Nfts erreichen zudem neue Sammler. Denn auch wenn sie im Internet kostenlos betrachtet werden können, absurd ist der Kauf der Original-Datei nicht: Ein Sammler, der im Dezember 2021 satte 300.6942 ETH (1,18 Millionen US-Dollar) für eine Daten-Skulptur von Refik Anadol (“MACHINE HALLUCINATIONS: NATURE DREAMS”, 2021) ausgegeben hatte, erhielt einen Computer mit einem physischen, signierten Zertifikat, Quellsicherungsdateien der Installation und eine spezielle Software. Eine ästhetische Erleuchtung wird das Kunstwerk freilich als großflächig an die Wand projizierte Kunst – nicht als Video am Handy.
Welche NFTs das Zeug haben werden, sich zu begehrten Sammlerstücken zu mausern und Kunstgeschichte zu schreiben, hängt von den sich in Zukunft durchsetzenden Trends ab. Allein ein niedliches Tier auf dem Bildschirm ist keine Wertgarantie. Es geht um deutlich mehr – wie immer in der Kunst: Können, überraschen, die andern abhängen. Wahr ist aber auch, dass die Werte einiger NFTs kurzfristig von den spontanen Wertzuschreibungen einiger – auch Kunstferner – User abhängen. Von einer Community, die außerhalb des klassischen Kunstbetriebs die Preise mitbestimmt. Untypisch ist auf den neuen Marktplätzen, dass die Preise für jeden einsehbar (im Gegensatz zum Usus in der Galerie) und die Faktoren der Preisbildung weniger komplex sind als am Kunstmarkt – was dem klassischen Kunstsystem die Stirn bietet. Es könnten auch dort Sittenmauern (Preisgeheimnis) fallen und neue Brücken zwischen den Welten (Kunst und Kryptokunst) entstehen.
Medienkünstler Refik Anadol ist selbst Sammler von NFTs, wie er im Telefon-Interview verrät. Der 1985 in Istanbul geborene Genius glaubt an den Wert dieser Waren. Er wirkt wie ein Mann der Zukunft. Für seine Daten-Skulpturen arbeitet er mithilfe einer Künstlichen Intelligenz (KI), die Millionen an Bilddaten aus dem Netz sammelt (mit und ohne Genehmigung, u.a. aus Archiven, Bibliotheken, aber auch privaten Webseiten) und zu neuen visuellen Mustern und Formen zusammensetzt. Wie auf einer Malerpalette, bloß mithilfe kybernetischer Zufälle und entsprechend einer neuartigen Eigengesetzlichkeit. Die daraus entstehenden Welten wurden 2021 sogar im MoMA in New York gezeigt. Täglich arbeitet der Ausnahmekünstler Anadol bis zu 16 Stunden an ihnen, davon 12 am Bildschirm, und stets im Team: 15 Experten aus 12 Nationen sitzen in Los Angeles im Refik Anadol Studio. Im Interview betont der er stolz: “Wir sind ein multinationales, interkulturelles Team aus Architekten, Computer-Scientists, Grafik- und Game-Designern, Neurowissenschaftlern, usw.”
Auch das ist bezeichnend bei den neuen Formen von Kunst: Es geht nicht nur um Künstliche, sondern auch um Gruppen- Intelligenz und Gruppenkreativität. Um kollektive Vibes á la Silicon Valley. Inzwischen ist diese Dynamik selbst in Kunstkeisen angesagt, man blicke nur auf das Kuratorenteam der Documenta und die hohe Anzahl an Kollektiven in Ausstellungen.
Refik Anadol interessierte sich bereits mit acht Jahren dafür, eigene Welten zu erschaffen. Damals waren es Computer-Spiele und Filme wie Blade Runner, die ihn inspirierten. Heute ist er der erste Künstler-Forscher, der Datensätze wie Pigmente einsetzt und den Begriff “Data Painting” als erster prägte. Seine erstmals in der Öffentlichkeit gezeigte Data-Sculpture (Daten-Skulptur), projizierte er 2011 an einem Gebäude in Istanbul. In 2016 nahm er an einem Residenz-Programm bei Google teil und nutzt seitdem Künstliche Intelligenz zur Erstellung seiner Daten-Skulpturen und -Gemälde. Sie entstehen auf Basis von Algorithmen, die die KI entwickelt und so Datensätze in multisensorische Erfahrungen verwandelt. Es geht Refik thematisch dabei immer um die Schönheit der Erde und Natur, um menschliches Bewusstsein und allgemein die Frage, wie sich Menschsein durch maschinelle Eingriffe verändert bzw. offenbart – völlig frei von Pessimismus übrigens. Schließlich sei er selbst der Protagonist dieser Projekte und trachte nach einer sinnvollen Verbindung von Mensch und Technologie: “I am always the protagonist and want to find the meaningful connection between humanity and technology”.
Refik Anadol hat jüngst eine Reihe neuer erstaunlicher Kunstwerke geschaffen, die auf Daten aus den Experimenten während des Raumflugs „Inspiration4“ basieren. Das dort durchgeführte Projekt „Important Memory for Humanity“ ist eine Zusammenarbeit zwischen der Kreativagentur „CreativeWorkStudios“ und dem von der NASA finanzierten „Translational Research Institute for Space Health“ (TRISH). Die Experimente im All galten den Auswirkungen des Weltraums auf den menschlichen Körper. Den unterschiedlichen Bedingungen im Weltraum und deren Einfluss auf u.a. die Zellen und Knochen der Astronauten. Das Ziel von NASA’s Human Research Program ist es, gesundheitliche und andere Risiken zu reduzieren, damit Menschen länger im Weltraum leben und tiefer in das Universum vordringen können. Der türkisch-amerikanische Künstler Anadol nutzte all diese Daten aber auch die audiovisuellen Aufzeichnungen des Fluges in und durch den Weltraum als Grundlage für eine limitierte Auflage seiner neuesten NFTs. Sie werden seit 10. April über das Manifold Studio zum Verkauf angeboten, 30 Prozent der Einnahmen kommen Krebs-kranken Kindern zu Gute. Anadol fördert die Interaktion zwischen Kunst und Wissenschaft. Er interessiert sich für die neusten Erkenntnisse der Wissenschaft insbesondere dort, wo sie uns über die normalen Sphären menschlicher Erfahrung hinausführt. Refiks Interpretation der Weltraumflug-Datensätze stellt infrage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, und will demonstrieren, dass wir uns in einer neuen Ära der Weltraumforschung befinden, von der die gesamte Menschheit profitieren wird.
Die Kunstwerke stehen der Öffentlichkeit seit April zum Kauf zur Verfügung. Interessenten können sich auf creativeworkstudios.com/refikanadol vorregistrieren und dort Updates erhalten.
Einen Überblick über die Data-Paintings, die Data-Sculptures udn die neuesten Arbeiten auf Daten aus dem All erhalten Sie auf refikanadol.com.